Es hat schon früher angefangen. Eigentlich begann es mit der Vorstellung, dass wir Eltern nur noch die Begleiter unser Kinder sein sollten. Es war ein Ringen um eine Form der Erziehung und Beziehung zwischen den Eltern und den Kindern. Der Übergang war in den 60iger Jahren, in denen eine autoritäre Erziehung – mit Recht – kritisiert und für menschenunwürdig erklärt wurde. Ähnliches wurde in dieser Zeit in dem Beziehungsraum von Erwachsenen wahrgenommen. Die autoritäre und patriarchale Grundstruktur wurde ebenfalls für nicht menschenwürdig und als beziehungswidrig erklärt. Die neuen Formen des Zusammenlebens wurden damit zum „Experiment“. Die Rollensicherheiten waren dahin. Wie wollen wir nun Beziehung gestalten? Wie soll unser Verhältnis zueinander aussehen? Ich habe die unterschiedlichsten Formen von Beziehung in Lebensgemeinschaften, Beziehungen, Vaterschaften, als Trainer, Berater, Supervisor und nun Ausbilder erlebt. Die Unsicherheit ist geblieben. Das ist gut so!
50 Jahre später ist eine Erstarrung eingetreten. Nein, nicht ganz. Es gibt Menschen, die verzweifelt um diese Beziehung und Authentizität ringen. Ein Ergebnis von vielen Skandalen, die Missbrauch und Gewalt aufdeckten, steigerte die Verunsicherung, wie eine Beziehung von Kind und Eltern sicher und wertschätzend stattfinden kann. Ähnliches geschieht in den Kindertagesstätten. Es werden Diskussionen über den männlichen Schoß geführt, auf den sich vor allem Mädchen nicht setzen und kuscheln dürfen. In den Ausbildungen von Erziehenden, Sozialpädagog*innen, wie Lehrkräften, wird von einer distanzierten Form der Begleitung ausgegangen. Es werden zukünftige Erziehende von einem Modell instruiert, das fast keinerlei authentische Beziehung zulässt. Viele lernen, wie eine Versorgung gelingend ermöglicht werden kann. Ähnlich ist es bei Lehrkräften, die Bildung mit Abwesenheit von Beziehung verbinden. Dies alles, obwohl Neurowissenschaftler (nicht die Pädagogen!) lautstark vermitteln, dass Lernen nur mit Gefühlen und Beziehung stattfinden kann. Dass es die Kinder, wie die Erwachsenen, krank macht, wenn in dem Zwischenspiel des Zusammenseins keine echte emotionale Bindung geschieht. In der Pandemie wurden Untersuchungen durchgeführt, die belegten, dass ein täglicher direkter Kontakt (sei es Videokonferenz oder Telefon) zur Lehrkraft die Motivation im Lernen und Lehren ermöglicht und steigert. Reines Versenden von Aufgabenblättern, egal wie toll diese abkopiert wurden, schaffen keine Motivation. Die Eltern zuhause wissen ein Lied davon zu singen. 85% der Kinder und Jugendlichen erleben diese Zeit als tiefe Erschütterung in ihrem Leben. Die Erwachsenen und deren Zunahmen von Burnout, Depression, Angstpsychosen oder Suchtkrankheiten wurden bisher noch nicht zahlenmäßig erfasst. Wir leiden alle unter dem Mangel an Liebe in den Beziehungen. Da hilft auch der beste Sex nichts, da dieser heute mehr eine „Care-Arbeit“ darstellt, als eine Befriedung des Bedürfnisses Liebe.
Heute haben wir eine Zeit, in der unser Nächster die unmittelbare Bedrohung darstellt. Menschen wenden sich ab, wenn sie auf einem schmalen Weg sich begegnen. Abwendung als soziale Handlung, damit keinerlei viraler Kontakt möglich ist! Kinder erfahren, dass sie nicht so wild spielen dürfen, damit nicht irgendjemand angesteckt wird. Kindern wie Erwachsenen wird vermittelt, dass Singen und Lachen im Raum die Infektionsgefahr erhöht. In Zügen soll nicht mehr gesprochen werden. Erziehende entschuldigen sich bei ihren Kolleginnen, weil sie ein weinendes Kind auf den Schoß genommen haben. Lehrkräfte führen den schon ausreichend distanzierten Unterricht noch distanzierter durch. „Wir müssen den Stoff durchbekommen, da ist kein Platz mehr für ein Spiel“ so die Aussage einer Grundschullehrkraft. Heimlich zeigten mir dann ihre Kollegen*innen, welche Tierfiguren sie für einen Beziehungsaufbau einsetzen. Es wirkte fast wie verboten. Im Mittel- und Oberstufenbereich geht es um das Bestehen von Abschlüssen. Wo ist da noch die Motivation, selbst etwas zu lernen? Wo sind die Kinder und auch Lehrkräfte, die etwas lernen wollen? In Hochschulen weinen die Studierenden bei einer Präsenzveranstaltung, da sie die Einsamkeit des Studierens nicht mehr verkraften. Alle diese Signale zeigen eigentlich in eine Richtung: Beziehung ist eine Gefahr! Vermeidet Beziehung – komm mir ja nicht zu nahe. Nur – und da können uns alle Videokonferenzen nicht drüber hinweg täuschen: wir brauchen die Umarmung, wir brauchen das Lachen, wir brauchen den feinen Geruch der Nähe, wir brauchen es, zu spüren, dass und wie wir gemocht werden. Wir sind soziale Wesen, und wir sind aufeinander angewiesen.
Der Mensch ist gut! Eine zutiefst radikale Sicht. Radikal, im Sinne von der „Wurzel her“, macht umso deutlicher, wie stark wir diesen sozialen Zusammenhalt brauchen, weil er unsere Quelle, unser Lebensmittel ist. So unterschiedlich, eigenbrötlerisch oder wundersam wir alle sind: wir brauchen einander.
Wir sind an einem Wendepunkt. Die Menschheit kann so nicht weiterleben, so nicht weitermachen, so nicht noch mehr die Zukunft der nächsten Generation zerstören. Doch in der Veränderung brauchen wir den sozialen Zusammenhalt, wir brauchen Beziehung und die Liebe, wie auch den Schmerz, wenn wir daran scheitern. Wir brauchen eine Konfliktkultur, die nicht sofort in ein „entweder- oder“ mündet. Dazu braucht es Vertrauen! Dazu braucht es Kontakt und wieder Kontakt. Wie wollen wir eine Gemeinde, einen Stadtteil, eine Stadt, ein Land, die Welt verändern, ohne die Beziehung zu den Menschen und ihrem Planeten?
Wie finden wir aus der Falle heraus, die uns diese Pandemie eingebrockt hat? Ich zweifle nicht an den wissenschaftlichen Begründungen für alle diese Maßnahmen. Doch für eine Gestaltung der Zukunft brauchen wir Beziehung und das Wohlwollen der Menschen, mit denen wir uns auf den Weg machen. Wie können wir dies schaffen? Wie können wir eine Form der Nähe wieder finden? Es braucht den Anfang auf Distanz, das ist sicher. Doch es braucht das Wissen, dass dies ein Provisorium ist, das wir so schnell wie möglich verlassen müssen. Die Distanz ist keine Zukunft!
Nutzen wir doch bitte die Zeit und überlegen uns, wie die Beziehung in einer Kindertagesstätte wieder einkehren kann. Anders und intensiver als vor der Pandemie! Wie eine Schule mit Beziehung und Zuneigung motivieren kann, in einen eigenen wunderbaren Lernprozess zu gehen! Üben wir uns jetzt schon, wie eine lebendige Nachbarschaft aussehen kann. Grüßen wir uns, bleiben stehen, reden miteinander. Besuchen uns im Garten, tauschen Pflanzen oder helfen einander. Üben wir uns, wie auch auf die Ferne eine Beziehung erhalten werden kann. Wie ein persönliches Telefonat ein kleines Wunder werden kann. Wie wir der Liebe einen Raum wieder geben, der uns erfüllt und uns voll Freude auf eine Umarmung harren lässt. Wir können jetzt schon anfangen! Wir müssen nicht warten! Es gibt Teams, die beginnen sich neu kennenzulernen. Die einfache biografische Arbeiten machen, die sich ihre Träume von ihrem Beruf schildern, die Beziehung zueinander schaffen. Die Konfliktthemen ansprechen, die schon so lange geschwelt haben. Es gibt jetzt schon die Möglichkeiten, über neue Formen der Gestaltung einer Schule, einer Kindertagesstätte, einer geschäftlichen Zusammenarbeit, eines beziehungsvollen Kontaktes zu Klienten nachzudenken. Wir können jetzt beginnen, denn bald braucht es die Praxis dafür.